Kann eine zur Testierunfähigkeit führende Schizophrenie auch nach dem Tod des Erblassers festgestellt werden?

Von: Dr. Georg Weißenfels

OLG München – Urteil vom 09.06.2021 – 7 U 4638/15

  • Erblasser lebt offensichtlich komplett in einer eigenen Welt
  • Gerichte und zahlreiche Sachverständige beurteilen die Frage der Testierfähigkeit unterschiedlich
  • Über zehn Jahre nach dem Erbfall entscheidet sich das OLG gegen die Testierfähigkeit des Erblassers

Das Oberlandesgericht München hatte sich im Rahmen einer Erbenfeststellungsklage mit der Frage der Testierfähigkeit eines Erblassers zu beschäftigen.

In der Angelegenheit war der Erblasser am 03.07.2009 verstorben.

Der Erblasser hatte am 04.12.2008 ein Testament errichtet, in dem er seine einzige Tochter als alleinige Erbin einsetzte und damit seinen einzigen Sohn von der Erbfolge ausschloss. 

Tochter beantragt Erbschein als Alleinerbin

Nach dem Ableben des Erblassers beantragte die Tochter des Erblassers bei dem zuständigen Nachlassgericht die Erteilung eines Erbscheins, der die Tochter als alleinige Erbin ausweisen sollte.

Das Nachlassgericht holte ein Sachverständigengutachten über die Frage der Testierfähigkeit des Erblassers ein.

Nachdem das Gutachten zu einem positiven Votum gekommen war, erteilte das Nachlassgericht den von der Tochter des Erblassers beantragten Alleinerbschein.

Diese Entscheidung des Nachlassgerichts griff der Sohn des Erblassers allerdings mit einer Beschwerde zum Oberlandesgericht an.

OLG ordnet die Einziehung des Erbscheins an

Nachdem das OLG im Beschwerdeverfahren einen weiteren Sachverständigen und eine Zeugin angehört hatte, ordnete das OLG die Einziehung des Erbscheins an.

Das OLG kam zu dem Ergebnis, dass der Erblasser testierunfähig gewesen sei, da bei ihm eine paranoide Symptomik vorgelegen habe.

Mit dieser Entscheidung des OLG im Erbscheinverfahren wollte sich die Tochter des Erblassers aber nicht abfinden.

Tochter des Erblassers erhebt Erbenfeststellungsklage

Sie erhob vielmehr mit dem Ziel Klage gegen ihren Bruder zum Landgericht, um dort, unabhängig vom Erbscheinverfahren, ihr Erbrecht feststellen zu lassen.

Das Landgericht zog die Akten aus dem Erbscheinverfahren bei, vernahm insgesamt neun Zeugen und wies die Klage der Tochter des Erblassers daraufhin mit Urteil vom November 2015 als unbegründet ab.

Auch das Landgericht war der Überzeugung, dass der Erblasser an einem chronischen Wahn gelitten habe und aus diesem Grund testierunfähig gewesen sei.

Tochter legt Berufung zum Oberlandesgericht ein

Gegen dieses Urteil des Landgerichts legte die Tochter des Erblassers Berufung zum Oberlandesgericht ein.

Nach einer Verfahrensdauer von fast sechs Jahren wies das OLG die Berufung aber als unbegründet ab.

Im Kern ging es bei dem Streit um die Frage, ob der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung testierunfähig war oder nicht.

Gestützt auf ein Privatgutachten trug die Tochter im Berufungsverfahren vor, dass ihr Vater aufgrund seines esoterischen Weltbildes vielleicht auffällig, jedoch weder krank und ganz bestimmt nicht testierunfähig gewesen sei.

OLG holt ein weiteres Gutachten ein

Das Oberlandesgericht holte daraufhin ein weiteres Gerichtsgutachten über die Frage der Testierfähigkeit des Erblassers ein und entschied dann die Angelegenheit auf Grundlage der „plausibel und nachvollziehbar begründeten Feststellungen des gerichtsbekannt auf dem einschlägigen Gebiet fachkundigen, zuverlässigen und unparteiischen Sachverständigen.“

Nach der postmortem von dem Sachverständigen gestellten Diagnose litt der Erblasser an einer chronischen paranoiden Schizophrenie und sei daher auch testierunfähig gewesen.

Gestützt wurde diese Diagnose u.a. auf Angaben in Büchern bzw. Briefen des Erblassers, wonach er zu einem 250 Jahre alten Holzbuddha gedanklich sprechen könne, und er seinem „Sohn drei Bücher gegeben habe mit reinen Durchgaben von hochgestellten Jenseitigen".

Erblasser äußert relativ abseitige Vorstellungen

Auch vertrat der Erblasser die Auffassung, dass von ihm im Jenseits 680 Seelen existieren würden, da man sich dort irgendwie "verdoppeln" könne.

Eine vom Gericht gehörte Zeugin bezeichnete der Erblasser als „schwarzmagische Hexe“, die ihm „schwarzmagisch vergiftete Blumen und Brot“ mitgebracht habe.

Normale Gespräche über Alltagsthemen seien mit dem Erblasser, so die Bekundungen einer Zeugin, nicht mehr möglich gewesen.

Sämtliche Sachverständige räumten zwar ein, dass eine Schizophreniediagnose regelmäßig eine ärztliche Untersuchung „zu Lebzeiten voraussetzt, weil nur durch psychiatrische Exploration zu klären ist, ob (wahnhafte) Gewissheit oder die Fähigkeit zur Relativierung besteht.“

Diagnose von Schizophrenie ausnahmsweise auch postmortem möglich

Aufgrund besonderer Umstände und insbesondere weil im zu entscheidenden Fall „ein ungewöhnlich reichhaltiges, authentisches Material“ in Form von Briefen, Büchern und auf DVD festgehaltenen Interviews für die Begutachtung vorlag, konnte der Sachverständige nach Überzeugung des Gerichts ein „stimmiges, widerspruchsfreies Bild von dem Vorstellungsbild des Erblassers“ gewinnen.

Im Ergebnis attestierte das OLG, den Ausführungen des Sachverständigen folgend, dem Erblasser postmortem mehrere Symptome einer chronischen Schizophrenie, so unter anderem einen „anhaltenden, kulturell unangemessenen oder völlig unrealistischen Wahn“.

Die „krankheitsbedingten Realitätsverzerrungen“ des Erblassers hätten, so das OLG, dazu geführt, dass der Erblasser nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Bedeutung und Tragweite seines Testaments zu erfassen.

Das Testament des Erblassers vom 04.12.2008 war damit endgültig unwirksam, die Klage der Tochter des Erblassers wurde abgewiesen und für den Erbfall galt die gesetzliche Erbfolge.

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